Hallo, mein Name ist Micha. Ich halte jetzt hier einen Redebeitrag im Namen der unabhängigen Wohnungslosen-Unterstützung Tübingen, abgekürzt WUT.
Wir als Gruppe möchten auf dieser Demonstration noch einmal auf die besonderen Probleme von Wohnungslosen in der Corona-Krise aufmerksam machen.
Ich weiß was es heißt auf der Straße zu leben, denn ich bin selber ein ehemaliger Wohnungs- und Obdachloser.
Wohnungslose ist die Bezeichnung für erwachsene Menschen ohne mietvertraglich gesicherten Wohnraum. Obdachlose sind die Menschen, die direkt auf der Straße leben.
Das kann ganz schnell gehen. Bei mir war es so dass ich nach der Trennung von meiner Freundin plötzlich wohnungslos war. In Tübingen so schnell ne Wohnung zu bekommen, geht halt nicht.
Ich hab dann drei Monate bei Freunden gewohnt.
Dieses couchsurfing ist oft ein Mittel um nicht direkt obdachlos zu werden. Irgendwann ging das nicht mehr. Ich wollte ihnen nicht mehr zur Last fallen. So bin ich im März 2009 direkt auf der Straße gelandet. Ich wurde ein Obdachloser.
Übernachtet habe ich in einem Spielplatz-Häuschen. Mein ganzes Hab und Gut hatte ich in einer Reisetasche bei mir. Geduscht hab ich bei Freunden. Denen habe ich aus Scham nichts erzählt.
Nach sechs Wochen bin ich dann im April 2009 zur Männer-Notübernachtung gegangen. Dort habe ich ein Bett in einem Dreibettzimmer bekommen. Das habe ich mit einem Tablettensüchtigen und einem Alkoholsüchtigen bewohnen müssen. In den ersten Nächten habe ich kaum geschlafen, weil ich nicht wusste, ob von diesen Menschen eine Gefahr ausgeht.
In den meisten Notübernachtungen gibt es nur Mehrbettzimmer, in die einander total fremde Menschen gesteckt werden. Trotzdem bin ich dankbar, dass es Notübernachtungen gibt, auch wenn vieles verbesserungswürdig ist.
Nach zwei Wochen habe ich ein Zimmer im Aufnahmehaus bekommen, wo ich zwei Jahre gelebt habe. In dieser Zeit war ich weiterhin der Definition nach wohnungslos. Erst als ich 2011 von dort in eine eigene Wohnung gezogen bin, war ich kein Wohnungsloser mehr.
Zusammen mit zwei Freunden habe ich im Januar 2021 die unabhängige Wohnungslosen-Unterstützung Tübingen gegründet.
Um die Probleme von Obdachlosigkeit zu verstehen muss man versuchen die Perspektiven zu wechseln. Deswegen würde ich sieben Fragen vorlesen um eure Vorstellungskraft zu verstärken wie ein Leben auf der Straße ist:
* Wie wäscht man sich ohne Bad?
PAUSE
* Wie schützt man sich ohne Tür?
PAUSE
* Wie kann man ohne Kühlschrank Lebensmittel kühl lagern?
PAUSE
* Wie macht man sich eine warme Mahlzeit ohne Herd?
PAUSE
* Wie geht man auf Toilette ohne eigenes WC?
PAUSE
* Wie kann man in eine Notübernachtung, wenn man einen Hund hat, der dort verboten ist?
PAUSE
* Wie geht man bei Corona in Quarantäne ohne Wohnung?
In der Corona-Krise ist das Schicksal von Wohnungslosen zwar manchmal Thema in der Öffentlichkeit, aber es fehlen die Taten.
* Wir fordern deswegen Wohnungslosen aktiv Zimmer in Hotels anzubieten. Sowie es anderswo gemacht wurde.
* Wir fordern das Öffnen der Duschen im Uhlandband für Wohnungslose.
* Wir fordern das aktive Verteilen von kostenlosen FFP2-Masken und Desinfektionsmitteln für wohnungslose und arme Menschen.
* Wir fordern eine Rücknahme von Geldstrafen für Wohnungslose, die wegen Verstößen gegen Corona-Regeln entstanden sind.
* Wir fordern, dass obdach- und wohnungslose Menschen priorisiert gegen das Coronavirus geimpft werden!